Beschreibung
Neu Rot stellte innerhalb des alternativen Musikreservoirs der DDR eine singuläre Erscheinung dar. Mit einer bemerkenswerten Strenge gegen sich selbst tastete sich die Band über Jahre konzentriert in Richtung Postrock vor. Dieser intensive Prozess fand 1988 mit der Produktion des Tapes „Halt An“ seine Erfüllung. Ihm ging die Emanzipation von Punk sowie ein Ringen um die ureigensten Mittel und ihre technische Umsetzbarkeit voraus. „Halt An“ stand darüber hinaus im Zeichen einer Trauerarbeit; 1987 starb Michael Pfaff, der erste Bassist der Band.
Wie so viele Bands, die Ende der 80er-Jahre einen geschliffeneren Ton pflegten, lagen auch die Anfänge von Neu Rot im Punkrock. Michael Pfaff, Jörg Stein und Henrik Eiler traten 1982 zunächst als Egacell in Erscheinung und einige Male live in und um Leipzig auf. Bei einem Konzert mit der Punklegende Wutanfall prallten innerhalb desselben Genres Welten aufeinander. In einer Wohnung, in welcher die Punks fix eine Wand einrissen, um Raum für den anschließenden Tumult zu schaffen, traf der reflektierende Punk von Egacell auf den Affektpunk von Wutanfall. Dem logischen Systembruch von Punk zu Postpunk folgte schließlich die Umbenennung von Egacell zu Neu Rot.
Zunächst markierten diesen Bruch die Texte des neuen Sängers Klaus-Peter John, der sich jedoch 1987 seinem Projekt The Oval Language zuwandte, sowie ab 1984 die Violine von Anke Mehlhorn. Um kontinuierlich auftreten zu können, unterzog sich Neu Rot dem bizarren Vorgang einer sogenannten „Еinstufung“. In der gnädig erteilten „Grundstufe“, unter gleichzeitiger Androhung ihres Entzugs, fielen Erlaubnis und Verbot zusammen; die Band erklärte man für legal, ihre Texte dagegen als illegal. Zuvor hatte die Einstufungskommission während des Songs „Wozu Grenzen ziehen“ reflexartig den Raum verlassen. Selbst den Bandnamen empfand die Jury als eine unberechenbare Assoziationskette vom verdächtigen Wort Neu zur ideologischen Signalfarbe Rot. Noch ein Jahr später tönte es der Band aus einer städtischen Behörde entgegen: „Sie wissen ganz genau, dass die Musik, die sie machen, in unserem Staat nicht erwünscht ist!“
Neu Rot setzte seinen Pilgerweg ins eigene Zentrum fort. Das 1987 eingespielte Tape „Brot & Spiele“ präsentierte noch eine verschleppte Variante der Birthday Party, wobei dessen herunter gedimmte Anmutung auf ein Tonband zurückging, welches während der Aufnahmen etwas zu langsam lief. Dieser willkommene Effekt löste einen schöpferischen Sparzwang aus, der sich für „Halt An“ als richtungsweisend herausstellen sollte. Jörg Steins Gesang sprach wie zu sich selbst und wurde durch einen Gitarrenkompressor gezwängt, über den das Mikro lief. Als Gitarrist schlug Stein dabei nur bestimmte Saiten auf immer wiederkehrenden Bundlagen an. Henrik Eiler reduzierte mittels ungerader Taktarten gezielt die Dynamik der Songs und musterte weitestgehend die Becken aus oder ersetzte sie auch mal durch Bleche aus der Druckformherstellung.
Um einen Stil live zu entwickeln, nutzte Neu Rot seine „Grundstufe“ und trat häufig auf. Karsten Maaß, ein Multiinstrumentalist und in dem Projekt Das Messer aktiv, sah ein Konzert von Neu Rot und verstand intuitiv ein Konzept, das zwar auf Teilhabe, nicht aber auf bedingungsloser Hingabe an das Publikum basierte. Die Band und sein Bass fusionierten, Maaß stieg unmittelbar zu den Aufnahmen von „Halt An“ ein und blieb als einflussreiche Konstante. Produziert wurde das Tape von Mike Stolle, ein Technikus, der Blei in Gold verwandelte, indem er zum Beispiel einem Mono-Mischpult Stereo einhauchte. Eine leerstehende Wohnung diente als Studio, ihr Mieter schien verschollen, entweder republikflüchtig oder einfach nur abgetaucht. An der Tür stand, im sinnigen Kontrast zu den Klängen, die aus den Räumen drangen, der Name Lachmund.
Eine verwaiste Wohnung war auch für das Tape-Cover von Bedeutung. Während seiner Stationierung als Bausoldat bei Görlitz hatte der Künstler Daniel Schörnig für seine Ausgangszeiten kurzerhand eine Wohnung in der Stadt besetzt. Einen Raum überschrieb er mit der Aufschlüsselung des Tapes in Titel und Namen, dann fotografierte er ihn. Die Cover kamen aus der Dunkelkammer, die Abzüge schnitt man von Hand zu. Inzwischen ist die Auflage von „Halt An“ nicht mehr zu rekonstruieren, sie lag irgendwo zwischen über fünfzig und unter einhundert Kopien, die zumeist bei Konzerten verkauft wurden.
Henrik Eiler und Anke Mehlhorn spielten ab 1985 phasenweise auch bei pffft…!, einem Industrialprojekt des ehemaligen Wutanfall-Sängers Chaos. Da Chaos in der DDR als Unperson galt, traten pffft…! mit Eilers und Mehlhorn mehrfach unter dem Decknamen Neu Rot II auf; die Verhältnisse machten die Tarnung unter einem Klarnamen nötig. Jörg Stein und Karsten Maaß entzogen sich diesen Verhältnissen im Herbst 1989 und kehrten der DDR den Rücken. Vorerst Ge-schichte, reformierte sich die Band 1992 mit Stein, Eiler und Maaß. Neu Rot ist bis heute aktiv.
credits
released September 22, 2022
Jörg Stein (voc, g, casio sk‑1, yamaha ps‑2) Karsten Maaß (bg, voc)
Anke Mehlhorn (vl, casio sk‑1)
Henrik Eiler (dr, voc, casio sk‑1)
Produced by Mike Stolle & Jörg Stein
Lyrics by Jörg Stein, except „Sometimes“ and for „Die Schlange“ by Christoph Wielepp
Tape artwork by Daniel Schörnig
Tape cover photos by Daniel Schörnig
Published by Henryk Gericke
Liner notes by Henryk Gericke
Remastered by Black Flag Mastering/ Friedemann Kootz
© Music by Neu Rot
except „Sometimes“ (traditional)
recorded Oktober 1988, Leipzig
Thanks to:
Mike Stolle, Adrian Neumann, Nikolaus Michael, Horst Pfaff, Andreas Berger, Christoph Wielepp, Daniel Schörnig and to the unknown roommate Lachmund
Christian Andersen, Michael Barthel, Sarah Baumann, Ralph Gabriel, Ronald Galenza, Jakob Geisler, Ulrike Geisler, Gerd Gericke, Elke Grabinski, Gabriele Herzog, Egmont Hesse, Sabine Jansen, Siegfried Männer, Bettina Matten-Gericke, Christian Morin, Frank Siewert, Philipp Strobel, Christoph Tannert, Stefan Widdess, Margarete Wohlan
In memory of Michael Pfaff.