Beschreibung
Wie viel Tage hat eigentlich das Jahr von Martin Bechler? Und wie viele Stunden hat sein Tag? Man kennt die Antwort, klar, und dennoch fragt man sich immer wieder, wie das sein kann. Wie er das macht. Hat dieser unrasierte Pyjama-Poet vielleicht einen Trick gefunden, die Zeit zu überlisten und die kreativen Einöden zu überwinden, denen man sich doch als Künstler – so heißt es zumindest – ständig gegenübersieht?
Denn was er in den letzten zwei Jahren mit Fortuna Ehrenfeld auf die Beine gestellt hat, ist wirklich beachtlich: 2017 kommt das zweite Album „Hey sexy“ raus, und viele Menschen in diesem Land haben fortan eine neue Lieblingsband, die scheinbar alles kann: Poesie ohne Kitsch. Gefühl ohne Kalkül. Musikalische Präzision ohne Muckerallüren. Und die eben auch eine ordentliche Schippe Weirdness, Wahnsinn und künstlerisches Risiko in ihre Songs packt.
„Hey sexy“ ist der Startschuss, aus dem Einmannprojekt wird mit Paul Weißert (Schlagzeug) und Jenny Thiele (Keyboard, Gesang) eine richtige Band, die sich mit Lust und Überzeugung auf die Bühnen des Landes stellt. 130 Auftritte, auf Festivals, in Hinterhöfen, in Clubs – am Ende des Jahres 2018 können Fortuna Ehrenfeld stolz Bilanz ziehen: Hier geht was.
Und Martin Bechlers Fuß bleibt weiter auf dem Gas kleben. Er ist inspiriert, er weiß, was er will, also fängt er sofort an, neue Songs zu schreiben und aufzunehmen. Am Ende hat er so viel gutes Material, dass gar nicht alles auf eine Platte passt. Im Frühjahr 2019 kommt nach dem Album „Helm ab zum Gebet“ auch noch die 6‑Song-EP „Die Lieder vom Regenradar und den Mandelviolinen“ heraus.
Es folgen mehr Auftritte, mehr Fans, mehr Zuspruch. Und das in ziemlicher Geschwindigkeit. Im November 2017 spielen Fortuna Ehrenfeld noch als Vorband von Kettcar in Kölns schönstem Club, den Gloria. Und eineinhalb Jahre später, im Mai 2019, machen sie den Laden alleine voll und hauen einen Auftritt raus, den die Zuschauer lange nicht vergessen werden.
Zwei Alben, eine EP, über dreihundert Konzerte, und das in nicht einmal zwei Jahren – die Bilanz von Fortuna Ehrenfeld ist beachtlich. Und es hätten wohl alle verstanden, wenn Bechler es mal etwas ruhiger hätte angehen lassen. Aber wie das eben so ist mit der Kunst und der Inspiration und dem Blut, an dem man geleckt hat: Martin Bechler hat im Mai 2019 schon die nächste, große, wahnsinnige Idee.
Er will nach Frankreich mit seiner Musik! Nach Frankreich, ins Mutterland des Chansons, in die Heimat von Gainsbourg, Bécaud, Aznavour. Das passt natürlich einerseits wunderbar. Die Musik von Fortuna Ehrenfeld hat viele Wurzeln, und der klassische französische Chanson ist wohl eine ihrer dicksten. Andererseits ist es aber nicht so, dass man in Frankreich auf ausländische Sänger sehnsüchtig warten würde. Und schon gar nicht auf deutsche.
Doch Martin Bechler ist das alles egal. Er hat da Bock drauf, also legt er los. Er gibt seine Texte an die Grafikerin Helen Karl, die schon „Helm ab zum Gebet“ so wunderbar verpackt hat mit ihrer Zeichnung auf dem Cover. Im Gegensatz zu ihm spricht Helen fließend Französisch. Und zwar nicht nur das, was man in der Schule lernt, sondern sie beherrscht auch die Slang-Variante „Verlan“, mit der junge Franzosen ihre Sprache einmal auf links drehen. Beste Voraussetzungen also, um die Fortuna-Ehrenfeld-Poesie, die gerne mal über Umwege, Sackgassen und Falltüren ans Ziel kommt, ins Französische zu übertragen.
Denn eines will Martin Bechler auf keinen Fall: Halbgare Texte vom Übersetzungsbeamten, wie das bei den deutschen Versionen von Musicals oft der Fall ist. „Dann wäre ich nur ein Kasper, der sich selbst einen Orden verleiht: Seht her, ich kann das auch auf Französisch.“ Doch was Helen Karl vorlegt, raubt ihm ein ums andere Mal den Atem. Aus „Bumm!“ wird „Pan“, aus dem „Zuweitwegmädchen“ macht sie „La reine de l’absence“ („Die Königin der Abwesenheit“). Und selbst für die „ungebumsten Wahrheiten“, die der Morgen in „Guten Morgen, Ehrenfeld“ („Bonjour ça va mon quartier“ ) ans Licht spült, findet sie ein Bild aus Nachtabschließern und dreckigen Fischschwänzen, das nicht nur passt, sondern sogar besser als im Deutschen ist – sagt Martin Bechler. Und der muss es ja nun wirklich wissen.
Am neunten Mai hat er die Idee, ein französisches Album zu machen. Am ersten August gibt er es fertig gemastert bei seiner Plattenfirma ab. Dazwischen liegt eine Menge blood, sweat and tears. Beziehungsweise: sang, sueur, et larmes. Denn Fortuna Ehrenfeld sind in dieser Zeit auf Tour und im Festivalmodus und haben eigentlich genug zu tun. Aber Martin und Helen verbeißen sich in das Projekt, sie treffen sich, telefonieren, schicken sich Mails hin und her: Welche Songs eignen sich für eine französische Version, welche eher nicht? Und was ist wichtiger bei der Übersetzung: Der Reim? Der Inhalt? Die Haltung? Am Ende steht Helen sogar im Studio und korrigiert ihn, wenn die Aussprache zu sehr holpert. Seinen Allemand-Akzent kriegt er trotzdem nicht los, und das will er auch gar nicht. Vielleicht, so die Hoffnung, wirkt das ja auf die Franzosen wie Rudi Carrell auf die Deutschen: Ein bisschen peinlich, aber irgendwie doch ganz nett.
Es mag etwas pathetisch klingen, aber Fortuna Ehrenfeld sehen dieses Album auch als Beitrag zur Völkerverständigung. In Zeiten, wo der europäische Gedanke immer mehr verloren geht und Populismus und Nationalismus hochblubbern wie eine verstopfte Toilette, setzt Martin Bechler auf Kommunikation: „Ich will nach Frankreich und dort Freunde finden. Ich will erfahren, was dort geht, und ich will denen zeigen, was wir hier machen. Das kann ich aber nicht, wenn ich deutsch singe. Also mache ich einen Kniefall vor der französischen Sprache. Selbst auf die Gefahr hin, dass ich mich damit blamiere.“ Irritationen auslösen, Reibung erzeugen, Gedankenpingpong anregen – das ist das, was ihm am Musikmachen gefällt. Egal, an welchem Ort, egal, in welcher Sprache.
Angst, dass ihm die 13 Songs von „Debout pour ma prière“ dort um die Ohren gehauen werden, dass man sich in Frankreichs hermetischer Chanson-Welt vielleicht provoziert fühlt von diesem dreisten Deutschen, der ihnen ihre heilige Poesie erklären will, hat Martin Bechler keine. Wieso auch? Er steht seit zwei Jahren Abend für Abend im Schlafanzug und in Bärentatzenpuschen auf der Bühne. Wovor sollte dieser Mann Angst haben?
Noch dazu, weil er keine überzogenen Erwartungen hat. Ihm ist klar: Die Chance, dass er der neue Chanson-Superstar in Frankreich wird, geht gegen Null. Aber wenn es am Ende dazu führt, dass er in Paris, Bordeaux oder Nantes in einem Café, einem Club, einem Hinterhof stehen kann und die Leute dort dazu bringt, sich über ihn und seine Musik zu wundern, ist für ihn schon alles erreicht.
Ingo Neumayer